Der in den Vorschriften des BGB verwandte zentrale Begriff „Kindeswohl“ ist als Handlungs- und Entscheidungsermächtigung ungeeignet.

Das „Kindeswohl“ gibt es als überprüfbar mit konkretem Inhalt …  ausfüllbare Größe tatsächlich nicht. Jeder versteht etwas anderes darunter. Der Begriff lädt als solcher die Beteiligten am Gerichtsverfahren geradezu ein, die eigenen mehr oder weniger unbewussten eigenen Werte und Auffassungen unüberprüfbar auf die fremde Kindsituation zu übertragen.

Bei Verwendung von „Kindeswohl“ sollten also alle Alarmglocken läuten.

Dazu

Dettenborn und Walter in „Familienrechtspsychologie“ (2. Auflage utb. Verlag Ernst Reinhard 2015) Seite 68:

“Unter juristischen Aspekten ist Kindeswohl ein unbestimmter Rechtsbegriff, eine Generalklausel, dessen Auslegung zum Inhalt richterlichem Entscheidens wird.… Unter moralischen Aspekten ist der Bezug auf das Kindeswohl ein Instrument der Rechtfertigung von Gesetzgebungs – oder Rechtsanwendungsakten sowohl im Sinne begründeter Prinzipien als auch im Sinne der Motivveredelung und der missbräuchlichen Kaschierung einseitiger Interessen.

Unter wissenschaftstheoretischen Aspekten lässt sich der Begriff Kindeswohl auch als eine definitorische Katastrophe wahrnehmen. Das hat verschiedene Ursachen. Einige dieser Ursachen werden im Folgenden erörtert.

  1. Obwohl als Orientierungs– und Entscheidungsmaßstab familiengerichtlichen beziehungsweise kindschaftsrechtlichen Handelns genutzt, wird nirgends im rechtlichen Regelwerk gesagt, was unter Kindeswohl zu verstehen ist. Obwohl als Schlüsselbegriff im Spannungsfeld von Elternrecht und staatlichem Wächteramt fungierend findet der Begriff Kindeswohl im Grundgesetz keinen Platz, wohl aber häufig in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Ich Ihnen zeigt sich die verfassungsrechtliche Relevanz des Kindeswohls. Angeregt werden sie aber durch einfachgesetzliche Entscheidungen.
  2. Das Kindeswohl soll als Instrument und Kriterium der Auslegung, zum Beispiel der Kindesinteressen, dienen. Zugleich fehlt es ihm selbst an schlüssiger Auslegung. Bei wohlwollen der Tendenz wird dies als Gestaltungsauftrag umschrieben oder als intendierte Orientierung am Einzelfall (Zitelman 2001,121). Häufig wird aber auch wenig zimperlich mit dem Begriff umgegangen. Er wird zum Beispiel beurteilt als frei von normativem Gehalt, leere Schachtel (Steindorff 1994), hohle Mystifikation (Keiser 1998) oder als Pauschalfloskel, als Worthülse (Ell 1990 B), als Mogelpackung (Goldstein u.a. 1991) sowie als ungeeignete Grundlage für eine professionelle Entscheidung (Figdor 2009).
  3. Dazu mag beitragen, dass der Begriff Kindeswohl eben nicht in einem schlüssigen sondern in mehreren Gebrauchskontexten vorkommt. Es soll unterschiedlichen Anforderungen und Zielen gerecht werden, deren logischer Zusammenhang eher lose ist.
  4. Kindeswohl ist ein Rechtsbegriff und muss es im Interesse von Rechtssicherheit bleiben. Aber er ist unter rechtlichen Aspekte allein nicht zu erfassen oder zu erklären, sondern nur mit interdisziplinärem Bezug, insbesondere durch Nutzung psychologischer Aspekte. Aber weder in der Psychologie noch in anderen Disziplinen gibt es Konzepte zum Wohl. Allenfalls finden sich welche zum Wohlbefinden oder zur Gesundheit, die aber nicht unmittelbar nutzbar sind.
  5. Daraus ergibt sich, dass jeder, der den Begriff Kindeswohl verwendet, seine Kompetenzen überschreitet. Der Jurist ist genötigt, über rechtliche und dadurch implizierte Wertaspekte hinaus auch psychologische Aspekte einzubeziehen. Da er nicht entsprechend ausgebildet ist, sind individuell erworbenes Fachwissen und eher zufällige Alltagskonzepte Grundlage seines Entscheidens. Der Psychologe oder Pädagoge muss in seinen Empfehlungen zwangsläufig Wertaspekte und rechtliche Regelungsanliegen einschließen und damit seine Fachkompetenz überschreiten.
  6. Kindeswohl ist kein empirischer Begriff, der beobachtbare Fakten benennt, sondern ein hypothetisches Konstrukt, ein alltagstheoretischer Begriff. Er ist ideologieanfällig. In der rechtspraktischen Nutzung werden empirische Bezüge gesucht und praktische Kriterien angestrebt. …“

Entscheidungen, die sich auf das „Kindeswohl“ stützen, gewährleisten in keinem Fall das Interesse des Kindes, kindheitslang von beiden Eltern gemeinsam betreut und erzogen zu werden. Sie sind tatsächlich stets eine Beschränkung dieser Kindesinteressen und können allenfalls eine Schadensbegrenzung in Form der im Einzelfall am wenigsten schädlichen Alternative sein.

Gerichtliche Entscheidungen unter Berufung auf das „Kindeswohl“ ohne konkrete Auseinandersetzung mit den möglichen zukünftigen Folgen für die geistige, körperliche und seelische Gesundheit des Kindes laufen überdies Gefahr, auch das Rechtsstaatsgebot zu verletzen.

Eine Rechtssprechung, die das Kind wirklich in den Mittelpunkt stellt, muss sich in erster Linie an den konkretisierbaren RECHTEN des Kindes orientieren.

Das Verfahren, das inhaltlich ausschließlich zum Schutz des Kindes und seiner gesunden Entwicklung zu dienen bestimmt ist, ist ein Rechtsverfahren, in dem eben diese Rechte des Kindes Mittelpunkt und Ziel sein müssen.

Die Rechte des Kindes sind aus deutschen Vorschriften sowie internationalen Konventionen hinreichend bestimmt und müssen an die Stelle des Begriffs „Kindeswohl“ treten.

In unseren Seminaren vermitteln wir konkrete Einzelheiten und praktische Umsetzungsmöglichkeiten.