Art. 20 Abs 3 GG lautet:

„Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“   

„Gesetz“ und „Recht“ – kein Widerspruch.

Die einfache gesetzliche Regelung ist danach im Hinblick auf Sinn und Wortwahl nach vorrangigen Regeln der Verfassung und verbindlicher internationaler Konventionen zu verstehen und („verfassungskonform“) auszulegen.

Bei Anwendung des geltenden Kindschaftsrechts muss die Beachtung dieser Prinzipien Konsequenzen haben, und zwar sowohl im Verständnis des zentralen Begriffs „Kindeswohl“, als auch bei der Anwendung von §§ 1684, 1685, 1671 BGB: 

             Rechte des Kindes und das „Kindeswohl“

Bei Verwendung des Begriffs „Kindeswohl“ sollten alle Alarmglocken läuten:

Dazu ein Auszug aus Dettenborn und Walter in „Familienrechtspsychologie“ (2. Auflage utb. Verlag Ernst Reinhard 2015) Seite 68:

Unter juristischen Aspekten ist Kindeswohl ein unbestimmter Rechtsbegriff, eine Generalklausel, dessen Auslegung zum Inhalt richterlichem Entscheidens wird.… Unter moralischen Aspekten ist der Bezug auf das Kindeswohl ein Instrument der Rechtfertigung von Gesetzgebungs – oder Rechtsanwendungsakten sowohl im Sinne begründeter Prinzipien als auch im Sinne der Motivveredelung und der missbräuchlichen Kaschierung einseitiger Interessen.

Unter wissenschaftstheoretischen Aspekten lässt sich der Begriff Kindeswohl auch als eine definitorische Katastrophe wahrnehmen. Das hat verschiedene Ursachen. Einige dieser Ursachen werden im folgenden erörtert.

  1. Obwohl als Orientierungs– und Entscheidungsmaßstab familiengerichtlichen beziehungsweise kindschaftsrechtlichen Handelns genutzt, wird nirgends im rechtlichen Regelwerk gesagt, was unter Kindeswohl zu verstehen ist. Obwohl als Schlüsselbegriff im Spannungsfeld von Elternrecht und staatlichem Wächteramt fungierend findet der Begriff Kindeswohl im Grundgesetz keinen Platz, wohl aber häufig in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Ich Ihnen zeigt sich die verfassungsrechtliche Relevanz des Kindeswohls. Angeregt werden sie aber durch einfachgesetzliche Entscheidungen.
  2. Das Kindeswohl soll als Instrument und Kriterium der Auslegung, zum Beispiel der Kindesinteressen, dienen. Zugleich fehlt es ihm selbst an schlüssiger Auslegung. Bei wohlwollen der Tendenz wird dies als Gestaltungsauftrag umschrieben oder als intendierte Orientierung am Einzelfall (Zitelman 2001,121). Häufig wird aber auch wenig zimperlich mit dem Begriff umgegangen. Er wird zum Beispiel beurteilt als frei von normativem Gehalt, leere Schachtel (Steindorff 1994), hohle Mystifikation (Keiser 1998) oder als Pauschalfloskel, als Worthülse (Ell 1990 B), als Mogelpackung (Goldstein u.a. 1991) sowie als ungeeignete Grundlage für eine professionelle Entscheidung (Figdor 2009).
  3. Dazu mag beitragen, dass der Begriff Kindeswohl eben nicht in einem schlüssigen sondern in mehreren Gebrauchskontexten vorkommt. Es soll unterschiedlichen Anforderungen und Zielen gerecht werden, deren logischer Zusammenhang eher lose ist.
  4. Kindeswohl ist ein Rechtsbegriff und muss es im Interesse von Rechtssicherheit bleiben.  (Achtung: Dieser Satz ist nicht verständlich, wenn das Weitere stimmt – Einschub vom Verfasser) Aber er ist unter rechtlichen Aspekten allein nicht zu erfassen oder zu erklären, sondern nur mit interdisziplinärem Bezug, insbesondere durch Nutzung psychologischer Aspekte. Aber weder in der Psychologie noch in anderen Disziplinen gibt es Konzepte zum Wohl. Allenfalls finden sich welche zum Wohlbefinden oder zur Gesundheit, die aber nicht unmittelbar nutzbar sind.
  5. Daraus ergibt sich, dass jeder, der den Begriff Kindeswohl verwendet, seine Kompetenzen überschreitet. Der Jurist ist genötigt, über rechtliche und dadurch implizierte Wertaspekte hinaus auch psychologische Aspekte einzubeziehen. Da er nicht entsprechend ausgebildet ist, sind individuell erworbenes Fachwissen und eher zufällige Alltagskonzepte Grundlage seines Entscheidens. Der Psychologe oder Pädagoge muss in seinen Empfehlungen zwangsläufig Wertaspekte und rechtliche Regelungsanliegen einschließen und damit seine Fachkompetenz überschreiten.
  6. Kindeswohl ist kein empirischer Begriff, der beobachtbare Fakten benennt, sondern ein hypothetisches Konstrukt, ein alltagstheoretischer Begriff. Er ist ideologieanfällig. In der rechtspraktischen Nutzung werden empirische Bezüge gesucht und praktische Kriterien angestrebt. …“

Der in den Vorschriften des BGB verwandte zentrale Begriff „Kindeswohl“ ist als alleinige Handlungs- und Entscheidungsermächtigung ungeeignet. 

Entscheidungen, die sich auf das „Kindeswohl“ stützen, gewährleisten in keinem Fall das Interesse des Kindes, kindheitslang von beiden Eltern gemeinsam betreut und erzogen zu werden. Sie sind tatsächlich stets eine Beschränkung dieser Kindesinteressen und können allenfalls eine Schadensbegrenzung in Form der im Einzelfall am wenigsten schädlichen Alternative sein.

Gerichtliche Entscheidungen unter Berufung auf das „Kindeswohl“ ohne konkrete Auseinandersetzung mit den bereits konkret vorhandenen Rechten des Kindes und ihrer Einbeziehung in Hinblick auf mögliche zukünftige Folgen für das Kindesinteresse laufen überdies Gefahr, auch das Rechtsstaatsgebot zu verletzen:

Das „Kindeswohl“ gibt es als überprüfbar mit konkretem Inhalt ausfüllbare Größe tatsächlich nicht. Ohne Gleichsetzung dieses Begriffs mit den konkreten Rechten des Kindes versteht jeder etwas anderes darunter. Der Begriff lädt als solcher die Beteiligten am Gerichtsverfahren geradezu ein, die eigenen mehr oder weniger unbewussten Werte und Auffassungen auf die fremde Kindsituation zu übertragen, statt das jeweilige Kind in seiner alters- und entwicklungsspezifischen Situation auch nur annähernd zu würdigen.

Sich aufdrängende Konsequenz bei einer verfassungs- und konventionskonformen Auslegung der §§ 1684, 1685, i.V.m. 1626 Abs. 3, bzw. § 1671 BGB:

Anstelle „Kindeswohl“ muss gesetzt, bzw. in diesen Begriff hinein interpretiert werden:

1. Das Recht des Kindes auf Familie aus

Art. 8 EMRK

Art. 16 UN-Konv.

2. Das Recht des Kindes, seine Identität zu behalten (in Kenntnis von und Umgang mit seinen Wurzeln) und zu entwickeln entsprechend

Art. 8 UN-Konvention

3. Das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und körperliche Unversehrtheit nach

Art. 2 GG

4. Das Recht auf würdevolle Behandlung und Schutz vor seelischen Verletzungen und anderen entwürdigenden Maßnahmen aus

Art 1 GG spezifiziert in den §§ 1618 a, 1631 Abs.2, 1626 Abs. 2, 1684 Abs. 2 BGB und 171 StGB (!!!)

Mit diesen Rechtsgrundsätzen kann ausgefüllt werden, welche Form von Beziehung zu seinen Bindungspersonen für die seelische und körperliche Gesundheit des Kindes und die Verwirklichung seiner Rechte dienlich bzw. förderlich ist, bzw ihre Blockade oder Störung eine Gefährdung dieser Rechte des Kindes darstellt.

Mit einer entsprechenden Hypothesenbildung müssen bei einem laufenden Umgangsverfahren stets auch Ermittlungen nach §§ 1666,1666a BGB vom Gericht durchgeführt und ggf. vorrangig entschieden werden.

Bei Verfahren nach § 1671 BGB wird sichtbar, dass bei einer Entlassung eines Elternteils aus seiner Grundpflicht dem Kind gegenüber zugleich die Voraussetzungen der §§§ 1666,1666a BGB vorliegen müssen, bzw. zuvor Hilfen und andere Maßnahmen nach diesen Vorschriften in Betracht zu ziehen sind.

Mit Anwendung verfassungsrechtlicher und international verbindlicher Vorgaben vermittelt sich auch, wie eine das Kind schonende und keinesfalls zusätzlich schädigende Einbeziehung (nicht „Anhörung“ im herkömmlichen Sinn) in behördliche und gerichtliche Verfahren im Einzelfall aussehen muss.(Augenscheinseinnahme seiner Beziehungswelt des Kindes statt entscheidungszentrierter verbaler Befragung – vgl. BVerfG v. 5.11.1980).

Beispiele für eine noch vorhandene wechselhafte und widersprüchliche Verwendung des Begriffs „Kindeswohl“ in den einzelnen Vorschriften des BGB

1. „Kindeswohl“ bei gemeinsamer Sorge und Trennung erlaubt den Eltern bei entsprechender Übereinstimmung, einen von ihnen einfach aus der Verantwortung zu entlassen. Der dadurch eintretende Rechtsverlust zu Lasten des Kindes steht nach dem Gesetz in § 1671 BGB außer Kontrolle durch das Gericht bei freier Disposition von Eltern. Dadurch wird zugleich das Grundrecht des Kindes auf gemeinsame Betreuung und Erziehung durch seine Eltern entgegen Art 19 GG ohne Rechtfertigung eingeschränkt.

2. Auf Antrag eines Elternteils kann das Gericht den anderen aus der Verantwortung entlassen, wenn dies dem „Kindeswohl“ „am besten entspricht“. Auch hier Entzug eines Grundrechts zu Lasten des Kindes ohne daran orientierte Legitimation und ohne qualifizierte Rechtsvertretung des Kindes.

3. Bei nichtehelicher Kindschaft ist das Grundrecht des Kindes auf gemeinsame Elternverantwortung abhängig gestellt von der ausdrücklichen Bewilligung durch die Mutter oder einer gerichtlichen Genehmigung nach Kindeswohlgesichtspunkten. Dem Vater ist auf seinen oder der Mutter Antrag hin die Verantwortung nur mit einzuräumen, wenn dies „dem Kindeswohl nicht widerspricht“.

4. Bei lang andauernder Pflege entspricht es selbst bei schweren Konflikten zwischen Pflegeeltern und leiblichen Eltern nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht ohne Weiteres dem „Kindeswohl“, dass die rechtliche Verantwortung den Pflegeeltern übertragen wird. In der Praxis wird eine grundsätzliche Rückführungsoption im Falle von langjähriger Pflege als dem „Kindeswohl“ dienlich gesehen (§ 1696 BGB). Ganz anders § 37 SGB VIII, der im Widerspruch davon ausgeht, dass es dem Kindeswohl entspricht, wenn das langjährige Pflegekind persönliche Sicherheit erfährt, indem die rechtlichen Verhältnisse möglichst endgültig zugunsten seiner Betreuer geregelt werden.                                                                                                          Das Bedürfnis eines traumatisierten Kindes ist vor allem Beziehungssicherheit. Rechtliche Unsicherheit der Pflegeeltern und ihre Abhängigkeit von den Eltern oder/und Jugendamt schlägt auf das Kind durch.                                                                                                                                                    Eine Einschränkung des formalen Sorgerechts der Eltern stößt hier an hohe Hürden. Jüngstes katastrophales Beispiel der BGH: Kein Sorgeentzug – nur Verbleibensanordnung nach jahrelangem juristischen Tauziehen.: Beschluss vom 22.1.2014 – XII ZB 68/11 = ZKJ 2014, S. 198: Leitsatz: „Ergibt sich die Gefährdung des Kindeswohls allein daraus, dass das Kind zur Unzeit aus der Pflegefamilie herausgenommen und zu den leiblichen Eltern zurückgeführt werden soll, liegt i.d.R. noch kein hinreichender Grund vor, den Eltern das Sorgerecht ganz oder teilweise zu entziehen“.

5. Sind Eltern und Pflegeeltern darin einig, entspricht es dem „Kindeswohl“, wenn Bereiche der rechtlichen Verantwortung von den Eltern auf die Pflegeeltern übertragen werden.

Im Bereich der Beziehungen des Kindes zu seinen Eltern, Verwandten, sonstigen Bindungspartnern scheint „Kindeswohl“ ähnlich unterschiedliche Bedeutung zu haben:

6. Es gehört „in der Regel zum Kindeswohl, dass das Kind Umgang mit beiden Eltern hat. In § 1684 BGB ist ausdrücklich von einem Recht des Kindes die Rede. Die Eltern werden gleichzeitig zum Umgang verpflichtet.

7. Nach Abs. 4 kann das Gericht das „Umgangsrecht“ (des Kindes !!!) „einschränken oder ausschließen“, soweit dies zum „Wohl des Kindes“ erforderlich ist“. Eine länger oder auf Dauer wirkende Maßnahme dieser Art soll aber nur ergehen können, wenn andernfalls das „Wohl des Kindes“ gefährdet wäre

8. Beim Umgang mit anderen Personen ist von einem Recht des Kindes nicht mehr die Rede. Hier muss der positive Nachweis erbracht sein, dass der Umgang „dem Wohl des Kindes dient“.

9. Anordnungen von Kontakteinschränkung zwischen Kind/ getrennten Elternteil beinhalten tatsächlich eine Einschränkung der Grundrechte des Kindes als Gewährleistung des „Kindeswohls“.

10. Bei dem Recht des Kindes auf Kontakte zu nahen Verwandten oder sonstigen Bindungspartnern ist dieses immer noch als Recht der Erwachsenen am Kind formuliert und in der Praxis damit antragsabhängig.