1976
Auslöser für den Anfang ist eine Wende in meinem beruflichen Leben:
Ein Jurist, der wie üblich gelernt hat, in der Vergangenheit abgeschlossene Sachverhalte mit Beweisregeln zu klären und Konflikte durch einen dauerhaft wirkenden Richterspruch unabhängig von der emotionalen Zufriedenheit der Parteien endgültig zu beenden, wird mit dem neuen Familienrecht konfrontiert.
Besser: Er nimmt an einer richterlichen Weiterbildung in Trier teil, die sich mit dem 1977 in Kraft tretenden Familienrecht beschäftigt.
Referierende Psychologen und Soziologen sind Ursache großer Verunsicherung.
Von den zukünftigen Familienrichtern wird etwas ganz Neues verlangt, was überhaupt nicht in die erlernten Schemata passen will. Sie sollen geradezu Propheten sein und nun zukunftsbezogen beurteilen, ob die vor ihnen sitzenden scheidungswilligen Eheleute Ihre eheliche Lebensgemeinschaft wohl wieder herstellen werden, wenn Ihnen ein Eheberater zur Seite gestellt wird. Noch gravierender: Ein Familienrichter soll vom 1. Juli an auch die „elterliche Gewalt“ (so hieß das bis 1980) nicht mehr nach dem Verschulden an der Scheidung, sondern ausschließlich nach dem „Kindeswohl“ möglichst einem Elternteil allein zuordnen.
Was aber – um Gottes Willen – ist „Kindeswohl“, wenn Eltern geschieden werden?
So nicht allein bei mir die konsternierte Frage.
Die von mir als Mitglied des Präsidiums beim Amtsgericht Bielefeld ausgelösten Diskussionen in der Richterschaft unterstreichen, dass die neuen Aufgaben, ohne zusätzlichen Schaden bei Kindern und deren Familien anzurichten, von uns nicht ohne weiteres bewältigt werden können.
1977
Es gelingt, mit Professor Dr. Wolfgang Klenner von der Fachhochschule Bochum einen Fachmann zu gewinnen, der die 8 Familienrichter in Bielefeld ab 1977 für etwa vier Jahre begleitet und mit uns – ich gehöre selbst auch dazu –seminarförmig in regelmäßigen Abständen psychologische Nachschulungen durchführt.
Schon nach den ersten Konferenzen mit unserem Lehrer wird mir klar, dass ich das, was „Kindeswohl“ sein kann, überhaupt nur annähernd definieren kann, nachdem ich selbst die Möglichkeit gehabt habe, die Situation des Kindes zur Kenntnis zu nehmen. Ich muss das Kind – so Klenner – im Zusammensein mit seinen Eltern erlebt haben.
Auf seine Empfehlung hin führe ich danach mit zunächst großen eigenen Unsicherheitsgefühlen bei allen jüngeren Kindern Hausbesuche durch. Regelmäßig sind beide Eltern anwesend. Für den Verlauf der Kontaktaufnahme haben die Seminare mit ihm verdeutlicht, dass eine verbale Befragung von Kindern nicht nur keine verwertbaren Aussagen hervorbringt, sondern regelmäßig mit erheblichen weiteren Belastungen bei Ihnen gerechnet werden muss.
Die durchgeführten „Augenscheinseinnahmen“ haben verblüffende Ergebnisse:
Bei mir die Erkenntnis, dass die Entscheidung im Sinne einer klaren Zuordnung an dem Leid des Kindes, das erkennbar keinen Elternteil missen will, nichts ändert. Und: Meine Erkenntnis, nicht mehr ohne Weiteres entscheiden zu können. Letzteres trifft mit einer Verunsicherung beider Elternteile zusammen, die ebenfalls in Anwesenheit eines Dritten erkennen müssen, dass sich an der Not ihres Kindes durch eine richterliche Entscheidung jeweils zugunsten eines von ihnen nichts ändert.
Dies wird zum Auslöser gemeinsamer konstruktiver Überlegungen und führt entweder zu einvernehmlicher Beratungsarbeit der Eltern oder Einsatz eines psychologischen Sachverständigen, der vom Gericht mit der lösungsorientierten Elternberatung beauftragt wird.
Eine zunehmende Zahl von Eltern verzichtet am Ende auf eine Zuweisung der „elterlichen Gewalt“ auf einen von ihnen und setzt auch nach der Scheidung mit Billigung des Gerichts die gemeinsame Verantwortung fort. Aber auch in den Fällen, in denen die Verantwortung noch einem allein zugewiesen wird, kommt es zu einvernehmlicher Handhabung der für die Kinder wichtigen fortdauernden Kontakte ohne förmliche gerichtliche Festlegung.
1980
Der Gesetzgeber streicht die Möglichkeit der fortdauernden gemeinsamen Sorge.
Ab 1. Januar soll das elterliche Sorgerecht ausnahmslos auf einen Elternteil allein übertragen werden.
Ein Elternpaar kommt für mich wie gerufen: Die Mutter, eine Lehrerin, bei der die 12 und 14 Jahre alten Söhne auch nach der Scheidung weiterhin wohnen werden, weigert sich ausdrücklich, das „Sorge-Recht“ (so heißt es jetzt) für beide Kinder allein zu übernehmen. Sie will den Vater jederzeit auf seine fortdauernde Verantwortung beanspruchen können. Er soll rechtlich keine Möglichkeit haben, sich „aus dem Staub zu machen“.
1982
Mein Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgericht führt am 3. November zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer ausnahmslosen Zuweisung der Sorge auf einen Elternteil.
Am 1.1. 1982 habe ich das Dezernat eines Jugendrichters und Vorsitzenden eines Jugendschöffengerichts übernommen. Der Wechsel in diese neue Funktion vermittelt für mich so nicht erwartete erschütternde Erkenntnisse über sich aufdrängende, bis offenbare Zusammenhänge zwischen elterlichen konflikthaften Trennungen oder sonstigen familiären Notlagen einerseits und strafrechtlich relevanten Verhaltensauffälligkeiten der von diesen Situationen früher betroffenen Kindern, jetzt Jugendlichen und Heranwachsenden andererseits.
Nach meinen Beobachtungen beläuft sich die Häufigkeit von dauerhaften Konfliktsituationen in den Elternhäusern zu späterer Delinquenz der betroffenen Kinder auf etwa 75 %.
1983
Als Mitglied des Bundesvorstandes des Deutschen Kinderschutzbundes gelingt es mir, zusammen mit Professor Klenner, die Programmatik der April-Tagung „ der Anwalt des Kindes als Konsequenz heutigen Verständnisses vom Kindeswohl“ der Evangelischen Akademie Bad Boll zu initiieren.
Zugunsten der Arbeit für eine solche Anwaltschaft für Kinder verlasse ich den Richterdienst und werde selbst Rechtsanwalt.
Am 12.9. wird auf dem Hintergrund der Ergebnisse der Tagung in Bad Boll von mir zusammen mit zwölf weiteren Personen der „Verband Anwalt des Kindes“ in Bielefeld gegründet. Die Konzeption für eine solche Anwaltschaft für Kinder war zuvor bereits im Deutschen Kinderschutzbund mit Fachleuten der Psychologie und Pädagogik sowie erfahrenen Praktikern erarbeitet und in Bad Boll vorgestellt worden.
Danach muss die kommende Anwaltschaft für Kinder unabhängig sein und interdisziplinär aufgestellt, vorsorgende wie nachsorgende Beratung für im Konflikt befindliche Verantwortungsträger für Kinder anbieten oder vermitteln. Sie soll in jedem Fall gerichtliche Vertretung für betroffene Kinder und Jugendliche zur Verfügung stellen. Ihre zentrale Aufgabe: Für die Beachtung der Grundrechte der Kinder insbesondere auch auf möglichst fortdauernde gemeinsame verantwortliche Elternschaft Sorge zu tragen, sowie die Gerichte dabei unterstützen, dass wirksame Hilfen für die Familien zum Tragen kommen und im Trennungsfall allen Beteiligten Möglichkeiten zur vorbildhaften friedlichen Konfliktlösung in geeigneter Form zu Verfügung gestellt werden.
1989/1990
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz tritt in Kraft.
Das Jugendamt soll in erster Linie Hilfen für Kinder und Eltern zu eigenständiger Konfliktlösung oder Gefahrabwendung zur Verfügung stellen. Und doch ist in dem Gesetz Sprengstoff enthalten, der aus heutiger Sicht geradezu zur Außerkraftsetzung des Rechtsstaatsprinzips im Bereich der Eltern – Kind – Trennung führt. Bei angenommener Gefährdung eines Kindes ist die Behörde seit 1989 ermächtigt, Kinder ohne vorherige Einschaltung des Gerichts aus ihrem Familienverband herauszunehmen.
Was ursprünglich wohl nur als extreme Ausnahme im Hinblick auf eine mögliche Unerreichbarkeit des Richters gedacht war, hat sich inzwischen längst zu einer üblichen vielfältigen Praxis (inzwischen über 40.000 Fälle jährlich) entwickelt, obwohl aufgrund der Änderungen der Organisationsstruktur der zuständige Richter bereits seit Längerem rund um die Uhr tatsächlich erreichbar ist. Widersprechen die Eltern der Inobhutnahme nicht, so kann es entgegen Art. 6 Abs. 3 GG bei einer dauerhaften Trennung des Kindes von seiner Familie verbleiben, ohne dass ein Richter je etwas davon erfährt.
Entgegen Art 1 GG bzw. UN-Konvention zum Schutze der Kindesrechte und EMRK ist in dem behördlichen Verfahren ein rechtskundiger Vertreter für das Kind nicht vorgesehen. Das Kind hat keine Möglichkeit, aus eigenem Recht eine Überprüfung der Situation durch ein unabhängiges Gericht herbeizuführen.
1993
Am 1. April steht ein neuer Berufswechsel an.
Unter Aufgabe meiner Rechtsanwaltskanzlei beginnt eine neue Richterzeit als Familienrichter im neuen Bundesland Brandenburg.
1994
Gemeinsame Bemühungen von der damaligen Arbeitsministerin in Brandenburg, Frau Hildebrand und mir, den Familiengerichten modellhaft eine „integrierte Beratungsstelle“ zuzuordnen, scheitern am Widerstand des Ministeriums für Justiz.
1998
Mit der Reform zum Kindschaftsrecht kommt ein erster Ansatz für eine eigene Vertretung der Kinder vor dem Familiengericht. Aus der heutigen Sicht jedoch eine Mogelpackung: Der Verfahrenspfleger soll möglichst ehrenamtlich arbeiten, ist abhängig von der Bestellung des Richters, den er kontrollieren soll und bedarf für eine für die Kinder wichtige Vermittlungstätigkeit eines besonderen Auftrags durch diesen Richter.
Eine besondere Ausbildung ist nicht vorgeschrieben. Von der Justiz wird er nachfolgend überwiegend nur als Sprachrohr angeblicher Willensbekundungen der betroffenen Kinder gesehen. Sein Honorar wird bei berufsmäßiger Ausübung fast regelmäßig auf die nur dafür aufgebrachte Zeit gekürzt und überdies erst nach längerem Kampf oft nach Monaten bis Jahren ausgezahlt. Von seinem Einsatz wird auch von den Gerichten nur zögernd Gebrauch gemacht.
2000
36 Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte treffen sich im Oktober zu einer einwöchigen Tagung der Deutschen Richterakademie in Wustrau. Thema ist:
„Kriminelle Kinder/ Kinderkriminalität als Aufgabe auch für Familiengerichte – Ursachen und Lösungsmöglichkeiten“.
Der Ausfall eines Referenten gleich am ersten Tag wird genutzt, um die unterschiedlichen Erfahrungen aus den jeweiligen Fachbereichen zusammenzutragen. Die bestehende allseitige Unzufriedenheit zusammengefasst: Verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen wird von den dafür zuständigen Behörden und Gerichten – so die Erfahrung aus der täglichen Praxis – keine oder nur mehr oder weniger zufallsabhängig die konkrete Hilfe gewährt, die tatsächlich im Einzelfall auch geeignet ist, sie vor einem weiteren Abgleiten in Verwahrlosung und Kriminalität zu bewahren.
Am Ende der Tagung kommt es zu den einstimmig verabschiedeten 13 „Wustrauer“ Forderungen„. Sie werden von der Richterakademie aus von der Direktorin des AG Löbau Verena Hönel und mir an alle Justizministerien der Länder und des Bundes versandt.
2009
Mit dem neuen Verfahrensrecht ändert sich für den Kindesvertreter nur wenig. Die Bezahlung von berufsmäßig eingesetzten Verfahrensbeiständen ändert sich zwar in eine pauschale, allerdings wieder sehr knapp bemessene Vergütung ohne Erstattung von Fahrtkosten und sonstigen Lasten. Die mangelnde Qualifikation und Abhängigkeit vom bestellenden Richter bleibt. Der Eindruck verdichtet sich, dass der Einsatz von Verfahrensbeiständen auch im Sinne einer Qualitätskontrolle richterlichen Handelns nicht wirklich gewollt ist. Ihre Bestellung kann oft wenig zur Verbesserung der Kindposition beitragen. Eher führt ihr Handeln zu einer Verschärfung der Kriege um das Kind herum, und behindert damit auch die verfassungsgemäße Aufgabenerfüllung durch den Richter.
So übernehmen Verfahrensbeistände oft die Rolle des Richters und machen wohlfeile Vorschläge, wie durch Zuweisung der alleinigen Sorge oder Teile davon auf nur ein Elternteil das Grundrecht des Kindes auf beide Eltern verkürzt werden soll. Keine Seltenheit sind auch konkrete Vorschläge zu Kontaktzeiten, -art und -umfang, die zu Lasten des Kindes eine flexible Elternverantwortung stark behindern, bzw. unmöglich machen. Verfallen auf diese Weise Verfahrensbeistände bewusst oder unbewusst in fremde Rollenmuster, so ist es ebenfalls keine Seltenheit, dass sie sich auch als quasi Sachverständige aufführen und meinen, die psychologischen Hintergründe einer Konfliktlage, wie auch Entwicklungsstände bei Kindern diagnostizieren und spätere Entwicklungen psychologisch prognostizieren zu können.
Bis 2009 werbe ich allein, hier und da unterstützt von Experten aus dem Bereich der Psychologie und Sozialpädagogik, als Referent in vielfältigen Fachtagungen, Weiterbildungskursen für BeraterInnen und JugendamtsmitarbeiterInnen und öffentlichen Vorträgen für ein neues Bewusstsein, für einen neuen notwendigen Blick auf die von Krisenlagen ihrer Eltern betroffenen Kinder.
Juli 2009
Eine persönliche Wende: Meine heutige Frau, Maria Prestien, wird gleichzeitig mit mir zum 1.Juli pensioniert; ein außerordentlicher Glücksfall auch für die weitere Verfolgung der bisher aus unterschiedlichen Perspektiven betriebenen beruflichen Ausrichtung im Dienste von Kindern.
Sie kommt aus dem Schuldienst, lässt sich ausbilden zur Ehe-, Familien- und Lebensberaterin.
Gemeinsam wollen wir auf der praktischen Ebene der professionellen Konfliktlösung wie im politischen Bereich unsere Erfahrungen einbringen.
Genauere Informationen dazu finden Sie hier: